Schauspiel
The Story of Bonnie and Clyde
Ein Roadmovie in Schwarzweißbildern, handkoloriert, UraufführungMehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft,
denn in ihr gedenke ich zu leben.
Albert Einstein
Blank is beautiful
Drei Jahrzehnte des weltweiten Plattmachens und Wiederaufbauens
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich an jenem Tag die Nachricht, dass Richard Baker, ein prominenter Republikaner und Kongressabgeordneter aus New Orleans, zu Lobbyisten gesagt hatte: "Endlich ist New Orleans von den Sozialwohnungen gesäubert. Wir konnten das nicht tun, aber Gott hat es getan." Joseph Canizaro, einer der reichsten Bauunternehmer der Stadt, hatte gerade eine ähnliche Ansicht geäußert: "Ich denke, wir haben jetzt einen schönen reinen Tisch zum Neuanfang. Und auf diesem Tisch erwarten uns ein paar sehr große Gelegenheiten." Die ganze Woche über hatten sich im Parlamentsgebäude des Staates Louisiana in Baton Rouge die Unternehmenslobbyisten die Klinke in die Hand gegeben, um diese großen Gelegenheiten abzusichern: niedrigere Steuern, weniger Vorschriften, billigere Arbeitskräfte und eine "kleinere, sicherere Stadt" - was in der Praxis bedeutete, die Sozialwohnungsprojekte aufzugeben und stattdessen Appartementhäuser und Eigentumswohnungen zu bauen. Wenn man all das Gerede von "Neuanfang" und "reinem Tisch" hörte, konnte man fast das giftige Gebräu von Trümmern, ausgelaufenen Chemikalien und menschlichen Überresten ein paar Kilometer weiter südlich vergessen.
Ein Netzwerk rechtslastiger Denkfabriken (...) fegte nach dem Sturm über die Stadt. Die Regierung von George W. Bush unterstützte mit zig Millionen Dollar deren Pläne, die Schulen von New Orleans in "Charter Schools" umzuwandeln, bei denen es sich um eigentlich öffentliche Schulen handelt, die von privaten Betreibern nach deren eigenen Regeln geleitet werden. Charter Schools spalten die Bevölkerung der Vereinigten Staaten zutiefst, vor allem aber in New Orleans, wo viele afroamerikanische Eltern sie als Mittel betrachten, die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung rückgängig zu machen, die allen Kindern denselben Bildungsstandard garantierten. Milton Friedman hingegen glaubte, der Staat hätte im Schulwesen nichts verloren. Seiner Ansicht nach beschränken sich die Funktionen des Staates darauf, "unsere Freiheit zu schützen, insoweit sie von außerhalb bedroht ist und insoweit sie unsere Mitbürger verletzen könnten: also für Gesetz und Ordnung zu sorgen, die Einhaltung privater Verträge zu überwachen, für Wettbewerb auf den Märkten zu sorgen". Anders formuliert: Polizei und Streitkräfte zu unterhalten - alles andere, auch kostenlose Bildung, wäre eine nicht gerechtfertigte Einmischung in den Markt.
Im scharfen Gegensatz zu dem Gletschertempo, mit dem die Dämme repariert und das Stromnetz wieder in Gang gebracht wurden, wurde das Schulsystem von New Orleans mit militärischer Eile und Präzision verauktioniert. Binnen 19 Monaten - während die Armen der Stadt noch größtenteils evakuiert waren - wurde das öffentliche Schulsystem nahezu vollständig durch privat betriebene Charter Schools ersetzt. Vor dem Hurrikan Katrina verwaltete die Schulbehörde 123 öffentliche Schulen, jetzt waren es nur noch vier. Vor dem Sturm hatte es sieben Charter Schools in der Stadt gegeben, jetzt waren es 31. Einst wurden die Lehrer von New Orleans von einer starken Gewerkschaft vertreten, jetzt kam der Tarifvertrag in den Reißwolf, und alle 4700 Mitglieder wurden gefeuert. Einige jüngere Lehrer wurden - bei reduziertem Gehalt - von den Charter Schools wieder eingestellt, die meisten aber nicht.
(...), während das American Enterprise Institute, eine Friedman'sche Denkfabrik, sich begeisterte: "Katrina vollbrachte in einem Tag ... was den Schulreformern von Louisiana in jahrelangen Versuchen nicht gelungen war." Die Lehrer öffentlicher Schulen mussten währenddessen zusehen, wie für die Flutopfer gesammeltes Geld abgezweigt wurde, um ein öffentliches System auszuradieren und es durch ein privates zu ersetzen; Friedmans Plan bezeichneten sie als "pädagogische Enteignung".
Solche konzertierten Überfälle auf die öffentliche Sphäre nach verheerenden Ereignissen und die Haltung, Desaster als entzückende Marktchancen zu begreifen, nenne ich "Katastrophen-Kapitalismus".
Mehr als drei Jahrzehnte lang hatten Friedman und seine mächtigen Anhänger genau diese Strategie perfektioniert: Auf eine große Krise oder einen Schock warten, dann den Staat an private Interessenten verfüttern, solange die Bürger sich noch vom Schock erholen, und schließlich diesen "Reformen" rasch Dauerhaftigkeit verleihen.
In einem seiner einflussreichsten Texte stellte Friedman das auf, was ich mittlerweile als das strategische Kerndogma seiner Bewegung bezeichne: die Schockdoktrin. Er stellte fest: "Nur eine Krise - eine tatsächliche oder empfundene - führt zu echtem Wandel. Wenn es zu einer solchen Krise kommt, hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die im Umlauf sind. Das ist meiner Ansicht nach unsere Hauptfunktion: Alternativen zur bestehenden Politik zu entwickeln, sie am Leben und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche politisch unvermeidlich wird." (...) Und wenn die Krise erst einmal da ist, davon war der Professor der University of Chicago überzeugt, kommt es vor allem darauf an, schnell zu handeln, der krisengeschüttelten Gesellschaft rasche und unumkehrbare Veränderungen aufzuzwingen, ehe sie wieder in die "Tyrannei des Status quo" zurückfallen kann. Er schätzte: "Eine neue Regierung hat ungefähr sechs bis neun Monate Zeit, um tiefgreifende Veränderungen zu erreichen; nutzt sie die Gelegenheit nicht, während dieses Zeitraums entscheidend zu handeln, wird sie sie nicht noch einmal bekommen." Diese Abwandlung von Machiavellis Ratschlag, Gewalttaten alle auf einmal zu begehen, erwies sich als der langlebigste Teil von Friedmans strategischem Erbe.
Die meisten Überlebenden einer Katastrophe wollen alles andere als reinen Tisch machen: Sie wollen erhalten, was immer sie können, und reparieren, was nicht völlig zerstört wurde; sie wollen diesen Ort als den erhalten, der sie geprägt hat. "Wenn ich die Stadt wieder aufbaue, fühle ich mich, als würde ich mich selbst wieder aufbauen", sagte Cassandra Andrews aus dem schwer beschädigten Lower Ninth Ward in New Orleans, während sie Schutt wegräumte. Katastrophen-Kapitalisten haben aber kein Interesse daran, wiederherzustellen, was einmal war. Im Irak, in Sri Lanka und in New Orleans begann die - absichtlich irreführend so genannte - "Rekonstruktion" damit, den Job der ursprünglichen Katastrophe zu Ende zu bringen und auszuradieren, was von der öffentlichen Sphäre und den entwurzelten Gemeinschaften noch übrig war, und es dann schleunigst durch so etwas wie ein neues Jerusalem des Unternehmertums zu ersetzen - und zwar ehe die Opfer des Krieges oder der Naturkatastrophe sich erneut organisieren und ihre Ansprüche anmelden konnten.
Mike Battles hat es am deutlichsten ausgedrückt: "Für uns waren die Angst und das Durcheinander ein echtes Versprechen." Der vierunddreißigjährige ehemalige CIA-Mitarbeiter meinte damit, dass dank der Verhältnisse im besetzten Irak seine bis dahin unbekannte und unerfahrene private Sicherheitsfirma Custer Battles Regierungsaufträge im Umfang von grob geschätzten 100 Millionen Dollar an Land ziehen konnte.
Der 11. September schien Washington grünes Licht gegeben zu haben, Länder gar nicht mehr zu fragen, ob sie die amerikanische Version von "Freihandel und Demokratie" überhaupt haben wollen, sondern sie ihnen mit militärischer Gewalt, mit Schock und Entsetzen einfach aufzuzwingen. (...)
Sofort nutzte die Regierung Bush die von den Anschlägen ausgelösten Ängste, um nicht nur den "Krieg gegen den Terror" zu starten, sondern auch sicherzustellen, dass er ein fast ausschließlich dem Profit dienendes Unterfangen würde: ein boomender neuer Industriezweig, der der schwächelnden US-Wirtschaft frisches Leben einhaucht. Am besten umschreibt man ihn wohl als "Katastrophen-Kapitalismus-Komplex", und er hat viel weiter reichende Tentakel als der militärisch-industrielle Komplex, vor dem Dwight Eisenhower gegen Ende seiner Amtszeit als Präsident gewarnt hatte: Heute geht es um einen globalen Krieg, den auf allen Ebenen Privatunternehmen führen, deren Einsatz mit öffentlichen Geldern bezahlt wird; ihr nicht endender Auftrag bestand darin, die Heimat der US-Amerikaner bis in alle Ewigkeit zu schützen und zugleich alles "Böse" in Übersee zu eliminieren. Binnen weniger Jahre hat er seine Marktreichweite schon vom Kampf gegen den Terrorismus auf die internationale "Friedenssicherung", auf die Kommunalpolitik und die immer häufigeren Naturkatastrophen ausgeweitet. Letztlich verfolgen die Unternehmen im Zentrum des Komplexes das Ziel, das Modell des profitorientierten Regierens, das sich unter außergewöhnlichen Umständen so rasch ausbreitet, in das normale, alltägliche Funktionieren des Staates einzubauen - anders ausgedrückt: die Regierung zu privatisieren.
Um dem Katastrophen-Kapitalismus-Komplex den nötigen Schwung mitzugeben, lagerte die Regierung Bush ohne öffentliche Debatte viele höchst sensible und zentrale Funktionen des Staates aus - von der Gesundheitsversorgung der Soldaten über die Befragung von Gefangenen bis zur "Datenauswertung" und Informationsbeschaffung über uns alle. In diesem nicht endenden Krieg spielt die Regierung nicht die Rolle eines Managers oder Administrators, sondern eines Risikokapitalisten mit tiefen Taschen, der sowohl das Startkapital für den Aufbau des Komplexes zur Verfügung stellt als auch der größte Abnehmer für die neuen Dienstleistungen wird. Ein Blick in nur drei Statistiken zeigt das Ausmaß des Wandels: Im Jahr 2003 unterschrieb die US-Regierung 3512 Verträge mit Firmen, die Sicherheitsaufgaben übernahmen; in den 22 Monaten bis zum August 2006 unterschrieb das Department of Homeland Security über 115 000 solcher Verträge. Der globale "Heimatschutz" - wirtschaftlich vor dem Jahr 2001 unbedeutend - ist heute ein 200-Milliarden-Dollar-Geschäft. lm Jahr 2006 gab die US-Regierung pro Haushalt im Schnitt 545 Dollar aus.
Und das ist nur die Heimatfront des Kriegs gegen den Terror; das wirkliche Geld wird mit dem Krieg in Übersee verdient. Abgesehen von den Waffenlieferanten, deren Profite dank des Irakkriegs in die Höhe geschossen sind, ist der Unterhalt der US-Militärmaschinerie heute eines der am schnellsten wachsenden Dienstleistungsgeschäfte der Welt. (...) Und dann wären da noch humanitäre Hilfe und Wiederaufbau.
Naomi Klein: Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus, aus dem Englischen übersetzt von Hartmut Schickert, Michael Bischoff und Karl Heinz Siber, S. Fischer Frankfurt am Main 2007.
denn in ihr gedenke ich zu leben.
Albert Einstein
Blank is beautiful
Drei Jahrzehnte des weltweiten Plattmachens und Wiederaufbauens
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich an jenem Tag die Nachricht, dass Richard Baker, ein prominenter Republikaner und Kongressabgeordneter aus New Orleans, zu Lobbyisten gesagt hatte: "Endlich ist New Orleans von den Sozialwohnungen gesäubert. Wir konnten das nicht tun, aber Gott hat es getan." Joseph Canizaro, einer der reichsten Bauunternehmer der Stadt, hatte gerade eine ähnliche Ansicht geäußert: "Ich denke, wir haben jetzt einen schönen reinen Tisch zum Neuanfang. Und auf diesem Tisch erwarten uns ein paar sehr große Gelegenheiten." Die ganze Woche über hatten sich im Parlamentsgebäude des Staates Louisiana in Baton Rouge die Unternehmenslobbyisten die Klinke in die Hand gegeben, um diese großen Gelegenheiten abzusichern: niedrigere Steuern, weniger Vorschriften, billigere Arbeitskräfte und eine "kleinere, sicherere Stadt" - was in der Praxis bedeutete, die Sozialwohnungsprojekte aufzugeben und stattdessen Appartementhäuser und Eigentumswohnungen zu bauen. Wenn man all das Gerede von "Neuanfang" und "reinem Tisch" hörte, konnte man fast das giftige Gebräu von Trümmern, ausgelaufenen Chemikalien und menschlichen Überresten ein paar Kilometer weiter südlich vergessen.
Ein Netzwerk rechtslastiger Denkfabriken (...) fegte nach dem Sturm über die Stadt. Die Regierung von George W. Bush unterstützte mit zig Millionen Dollar deren Pläne, die Schulen von New Orleans in "Charter Schools" umzuwandeln, bei denen es sich um eigentlich öffentliche Schulen handelt, die von privaten Betreibern nach deren eigenen Regeln geleitet werden. Charter Schools spalten die Bevölkerung der Vereinigten Staaten zutiefst, vor allem aber in New Orleans, wo viele afroamerikanische Eltern sie als Mittel betrachten, die Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung rückgängig zu machen, die allen Kindern denselben Bildungsstandard garantierten. Milton Friedman hingegen glaubte, der Staat hätte im Schulwesen nichts verloren. Seiner Ansicht nach beschränken sich die Funktionen des Staates darauf, "unsere Freiheit zu schützen, insoweit sie von außerhalb bedroht ist und insoweit sie unsere Mitbürger verletzen könnten: also für Gesetz und Ordnung zu sorgen, die Einhaltung privater Verträge zu überwachen, für Wettbewerb auf den Märkten zu sorgen". Anders formuliert: Polizei und Streitkräfte zu unterhalten - alles andere, auch kostenlose Bildung, wäre eine nicht gerechtfertigte Einmischung in den Markt.
Im scharfen Gegensatz zu dem Gletschertempo, mit dem die Dämme repariert und das Stromnetz wieder in Gang gebracht wurden, wurde das Schulsystem von New Orleans mit militärischer Eile und Präzision verauktioniert. Binnen 19 Monaten - während die Armen der Stadt noch größtenteils evakuiert waren - wurde das öffentliche Schulsystem nahezu vollständig durch privat betriebene Charter Schools ersetzt. Vor dem Hurrikan Katrina verwaltete die Schulbehörde 123 öffentliche Schulen, jetzt waren es nur noch vier. Vor dem Sturm hatte es sieben Charter Schools in der Stadt gegeben, jetzt waren es 31. Einst wurden die Lehrer von New Orleans von einer starken Gewerkschaft vertreten, jetzt kam der Tarifvertrag in den Reißwolf, und alle 4700 Mitglieder wurden gefeuert. Einige jüngere Lehrer wurden - bei reduziertem Gehalt - von den Charter Schools wieder eingestellt, die meisten aber nicht.
(...), während das American Enterprise Institute, eine Friedman'sche Denkfabrik, sich begeisterte: "Katrina vollbrachte in einem Tag ... was den Schulreformern von Louisiana in jahrelangen Versuchen nicht gelungen war." Die Lehrer öffentlicher Schulen mussten währenddessen zusehen, wie für die Flutopfer gesammeltes Geld abgezweigt wurde, um ein öffentliches System auszuradieren und es durch ein privates zu ersetzen; Friedmans Plan bezeichneten sie als "pädagogische Enteignung".
Solche konzertierten Überfälle auf die öffentliche Sphäre nach verheerenden Ereignissen und die Haltung, Desaster als entzückende Marktchancen zu begreifen, nenne ich "Katastrophen-Kapitalismus".
Mehr als drei Jahrzehnte lang hatten Friedman und seine mächtigen Anhänger genau diese Strategie perfektioniert: Auf eine große Krise oder einen Schock warten, dann den Staat an private Interessenten verfüttern, solange die Bürger sich noch vom Schock erholen, und schließlich diesen "Reformen" rasch Dauerhaftigkeit verleihen.
In einem seiner einflussreichsten Texte stellte Friedman das auf, was ich mittlerweile als das strategische Kerndogma seiner Bewegung bezeichne: die Schockdoktrin. Er stellte fest: "Nur eine Krise - eine tatsächliche oder empfundene - führt zu echtem Wandel. Wenn es zu einer solchen Krise kommt, hängt das weitere Vorgehen von den Ideen ab, die im Umlauf sind. Das ist meiner Ansicht nach unsere Hauptfunktion: Alternativen zur bestehenden Politik zu entwickeln, sie am Leben und verfügbar zu halten, bis das politisch Unmögliche politisch unvermeidlich wird." (...) Und wenn die Krise erst einmal da ist, davon war der Professor der University of Chicago überzeugt, kommt es vor allem darauf an, schnell zu handeln, der krisengeschüttelten Gesellschaft rasche und unumkehrbare Veränderungen aufzuzwingen, ehe sie wieder in die "Tyrannei des Status quo" zurückfallen kann. Er schätzte: "Eine neue Regierung hat ungefähr sechs bis neun Monate Zeit, um tiefgreifende Veränderungen zu erreichen; nutzt sie die Gelegenheit nicht, während dieses Zeitraums entscheidend zu handeln, wird sie sie nicht noch einmal bekommen." Diese Abwandlung von Machiavellis Ratschlag, Gewalttaten alle auf einmal zu begehen, erwies sich als der langlebigste Teil von Friedmans strategischem Erbe.
Die meisten Überlebenden einer Katastrophe wollen alles andere als reinen Tisch machen: Sie wollen erhalten, was immer sie können, und reparieren, was nicht völlig zerstört wurde; sie wollen diesen Ort als den erhalten, der sie geprägt hat. "Wenn ich die Stadt wieder aufbaue, fühle ich mich, als würde ich mich selbst wieder aufbauen", sagte Cassandra Andrews aus dem schwer beschädigten Lower Ninth Ward in New Orleans, während sie Schutt wegräumte. Katastrophen-Kapitalisten haben aber kein Interesse daran, wiederherzustellen, was einmal war. Im Irak, in Sri Lanka und in New Orleans begann die - absichtlich irreführend so genannte - "Rekonstruktion" damit, den Job der ursprünglichen Katastrophe zu Ende zu bringen und auszuradieren, was von der öffentlichen Sphäre und den entwurzelten Gemeinschaften noch übrig war, und es dann schleunigst durch so etwas wie ein neues Jerusalem des Unternehmertums zu ersetzen - und zwar ehe die Opfer des Krieges oder der Naturkatastrophe sich erneut organisieren und ihre Ansprüche anmelden konnten.
Mike Battles hat es am deutlichsten ausgedrückt: "Für uns waren die Angst und das Durcheinander ein echtes Versprechen." Der vierunddreißigjährige ehemalige CIA-Mitarbeiter meinte damit, dass dank der Verhältnisse im besetzten Irak seine bis dahin unbekannte und unerfahrene private Sicherheitsfirma Custer Battles Regierungsaufträge im Umfang von grob geschätzten 100 Millionen Dollar an Land ziehen konnte.
Der 11. September schien Washington grünes Licht gegeben zu haben, Länder gar nicht mehr zu fragen, ob sie die amerikanische Version von "Freihandel und Demokratie" überhaupt haben wollen, sondern sie ihnen mit militärischer Gewalt, mit Schock und Entsetzen einfach aufzuzwingen. (...)
Sofort nutzte die Regierung Bush die von den Anschlägen ausgelösten Ängste, um nicht nur den "Krieg gegen den Terror" zu starten, sondern auch sicherzustellen, dass er ein fast ausschließlich dem Profit dienendes Unterfangen würde: ein boomender neuer Industriezweig, der der schwächelnden US-Wirtschaft frisches Leben einhaucht. Am besten umschreibt man ihn wohl als "Katastrophen-Kapitalismus-Komplex", und er hat viel weiter reichende Tentakel als der militärisch-industrielle Komplex, vor dem Dwight Eisenhower gegen Ende seiner Amtszeit als Präsident gewarnt hatte: Heute geht es um einen globalen Krieg, den auf allen Ebenen Privatunternehmen führen, deren Einsatz mit öffentlichen Geldern bezahlt wird; ihr nicht endender Auftrag bestand darin, die Heimat der US-Amerikaner bis in alle Ewigkeit zu schützen und zugleich alles "Böse" in Übersee zu eliminieren. Binnen weniger Jahre hat er seine Marktreichweite schon vom Kampf gegen den Terrorismus auf die internationale "Friedenssicherung", auf die Kommunalpolitik und die immer häufigeren Naturkatastrophen ausgeweitet. Letztlich verfolgen die Unternehmen im Zentrum des Komplexes das Ziel, das Modell des profitorientierten Regierens, das sich unter außergewöhnlichen Umständen so rasch ausbreitet, in das normale, alltägliche Funktionieren des Staates einzubauen - anders ausgedrückt: die Regierung zu privatisieren.
Um dem Katastrophen-Kapitalismus-Komplex den nötigen Schwung mitzugeben, lagerte die Regierung Bush ohne öffentliche Debatte viele höchst sensible und zentrale Funktionen des Staates aus - von der Gesundheitsversorgung der Soldaten über die Befragung von Gefangenen bis zur "Datenauswertung" und Informationsbeschaffung über uns alle. In diesem nicht endenden Krieg spielt die Regierung nicht die Rolle eines Managers oder Administrators, sondern eines Risikokapitalisten mit tiefen Taschen, der sowohl das Startkapital für den Aufbau des Komplexes zur Verfügung stellt als auch der größte Abnehmer für die neuen Dienstleistungen wird. Ein Blick in nur drei Statistiken zeigt das Ausmaß des Wandels: Im Jahr 2003 unterschrieb die US-Regierung 3512 Verträge mit Firmen, die Sicherheitsaufgaben übernahmen; in den 22 Monaten bis zum August 2006 unterschrieb das Department of Homeland Security über 115 000 solcher Verträge. Der globale "Heimatschutz" - wirtschaftlich vor dem Jahr 2001 unbedeutend - ist heute ein 200-Milliarden-Dollar-Geschäft. lm Jahr 2006 gab die US-Regierung pro Haushalt im Schnitt 545 Dollar aus.
Und das ist nur die Heimatfront des Kriegs gegen den Terror; das wirkliche Geld wird mit dem Krieg in Übersee verdient. Abgesehen von den Waffenlieferanten, deren Profite dank des Irakkriegs in die Höhe geschossen sind, ist der Unterhalt der US-Militärmaschinerie heute eines der am schnellsten wachsenden Dienstleistungsgeschäfte der Welt. (...) Und dann wären da noch humanitäre Hilfe und Wiederaufbau.
Naomi Klein: Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus, aus dem Englischen übersetzt von Hartmut Schickert, Michael Bischoff und Karl Heinz Siber, S. Fischer Frankfurt am Main 2007.