Schauspiel

Elling

Schauspiel von Axel Hellstenius (unter Mitwirkung von Petter Næss) nach dem Roman „Blutsbrüder“ von Ingvar Ambjørnsen, Übersetzt aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Elling über seine Mutter

Ich hatte schließlich ein sehr enges Verhältnis zu meiner Mutter gehabt, kein hysterisches, kein gefährliches, so, wie ich es in Büchern gelesen oder im Kino gesehen hatte – aber trotzdem ließ sich nicht leugnen, daß es mein Leben, also zweiunddreißig Jahre lang, nur sie und mich gegeben hatte. Meinen Vater habe ich nicht gekannt, er starb vier Wochen vor meiner Geburt bei einem Arbeitsunfall. Für mich gab es ihn nur in Mutters Erinnerungen, und erst als Erwachsenem wurde mir klar, daß ich ihn vermißte.
(Ausblick auf das Paradies, S. 6)

Mein Leben lang war das mein großer Albtraum gewesen. Daß sich ein fremder Mann zwischen meine Mutter und mich drängte. Nur ein einziges Mal hatte Mutter mir Grund zur Sorge gegeben. Als ich so um die Zwanzig war, hatte ein Witwer, ein gewisser „Sandnes“, es für gut befunden, ab und zu vorbeizuschauen. Ich hatte sofort begriffen, daß die Lage ernst war, und mir eine knallharte Konfrontationstaktik zurechtgelegt. Jedesmal wenn er kam, stellte ich mich mitten ins Zimmer und starrte ihn an. Bis er ging. Mutters Weinen und Flehen traf auf taube Ohren. Ich rührte mich nicht vom Fleck und konnte meinen Blick über eine Stunde durchhalten. Nach zwei Monaten war die Sache gegessen, und Mutter erwähnte ihn mit keinem Wort mehr.
(Ententanz, S. 212)

Mein Leben lang hatte ich mit einer Mutter von schwachem und vagem Charakter zusammengelebt. Ich hatte den Rahmen um unser gemeinsames Dasein erhalten und verhindern müssen, daß alles zur Sinnlosigkeit zerfloß. In all den Jahren hatte ich die Ideen vertreten müssen, die familiäre Ideologie gewissermaßen, während Mutter sich auf ihre schlichte Weise um das Praktische gekümmert hatte. Ich hatte mich daran gewöhnt, ihr aus der weichen Tiefe des Sessels zuzusehen, wenn sie sich um die Topfblumen kümmerte, den Boden putzte oder in meinem Zimmer die Bettwäsche wechselte. Ans Waschbecken gelehnt, hatte ich die Tricks studiert, mit denen sie Frikadellen und Weißkohl, geräucherten Köhler und Königskuchen zubereitete. Als Sozialdemokrat hatte ich immer tiefen Respekt vor der manuellen Arbeit empfunden, vor dem wirklichen Tagewerk. Ich erkannte die Grenzen, ja, die Unbeholfenheit des Intellektuellen, wenn es um Praktisches ging. Und eben deshalb mußte ich Mutter klarmachen, wo zwischen uns die Grenze verlief. Es war nicht egal, wer von uns das Klo putzte. Wenn ich solche Arbeiten verweigerte, faßte sie das oft als Zeichen von Faulheit oder Unwillen meinerseits auf. Aber ich wußte, wenn ich die Ärmel hochkrempelte und ihr zu Willen war, dann würde ich zugleich in ihren geheimen Raum eindringen. Sie ahnte nicht einmal, daß dieser geheime Raum existierte, so geheim war der nämlich, aber ich sah es doch von meinem Sessel aus kristallklar. Mein ruhiges „nein, Mutter“ provozierte sie zwar manchmal, aber in den letzten Jahren ihres Lebens hatte sich wohl zumindest ihr Unterbewußtsein mit dem Stand der Dinge abgefunden. Sie schien sich auf irgendeine Weise damit ausgesöhnt zu haben, daß unsere Arbeitsteilung nun einmal so und nicht anders aussah. Aber jetzt, nach Mutters Tod, war dieses System zusammengebrochen. Innerhalb weniger kurzer Wochen war ich in eine Anarchie gestürzt worden, in der zu allen Tageszeiten Fremde meine Wege kreuzten. Die äußere Ruhe um mein Dasein in einer Blockwohnung am Rande der Landeshauptstadt war jählings einem aufgezwungenen Zimmergenossen und dem Zwang zu sozialem Umgang mit Menschen gewichen, die im Grunde restlos asozial waren.
(Ausblick auf das Paradies, S. 45f.)