Schauspiel/Komödie

Adam und Eva

Komödie in einem Vorspiel und drei Akten von Peter Hacks
(...) Die Geschichte vom Sündenfall steht in der Genesis. Der Verfasser hat nicht unternommen, auf den hinter der biblischen Erzählung im Dunkel ruhenden Mythos zurückzugreifen; übrigens sind es mehrere mythische Schichten, die da ruhen, matriarchalische und patriarchalische, agrarische und nomadische. Jede zeigt sich an zufälligen Stellen, keine ganz; die Stellen passen nicht zueinander. (...) Kurz, eine verbindliche Urform des Mythos ist kaum wiederherstellbar. Vielleicht behandelte er die Erfindung des Beischlafs.
So läßt der Verfasser ruhen, was ruhen will. Er folgt treulich dem Jahvisten und den Priestern, und er folgt den Kirchenvätern, die in der Sache gut Bescheid wußten. Zum Beispiel berichtet Augustin, daß im Stande der Unschuld das männliche Zeugungsglied dem Willen auf den Wink gehorchte; es tat und ließ, was der Mann von ihm wollte, während seit dem Sündenfall der Mann tut und läßt, was seinem Gliede in den Kopf kommt. Dem Einwand, daß bestimmte Körperteile dem Zugriff der Vernunft doch entzogen seien, begegnet der Philosoph durch Anführung eines Menschen, welcher mit dem After Melodien furzen konnte. Man wird sehen, daß der Verfasser aus dieser Information einen seiner entscheidenden Fabelpunkte gewonnen hat. Auch genauere Kenntnis der vor dieser Welt erschaffenen Welten verdankt er dem Augustin. (...)

Natürlich sind die Einsichten der mythischen oder mythisch gefärbten Dialektik von vorwissenschaftlicher Art; hiermit ist nicht gesagt, daß sie sich erübrigt hätten. Die Wissenschaft weiß nicht alles. Und dort, wo sie weiß, taugt sie noch längst nicht für die Kunst. Die anschauliche Weise des Begreifens, welche nicht allein den Kopf, sondern auch die Haltungen des Begreifenden verändert, erzielt, wenn es ums praktische Urteilen geht, sehr häufig das reichere und richtigere Ergebnis. (...)

Das große Bild vom Sündenfall (...) zeigt die Undenkbarkeit eines vollkommenen Zustands. Ein vollkommener Zustand wäre mit Notwendigkeit einer, der auch sein Gegenteil in sich enthielte; ein solcher aber würde das Bedürfnis haben, sich zu bewegen. Daher gehört Bewegung zum Höheren zur Vollkommenheit; daher gehört Unvollkommenheit zur Vollkommenheit. Eine vollkommene Bewegung geht zu denken, nicht ein vollkommener Zustand. Das Paradies, sagt der Jahvist, ist zu.
Es zeigt die Freiheit als Entfremdung und aber auch die Entfremdung als Freiheit. Die Freiheit zum Guten kann von der zum Bösen nicht getrennt werden; Freiheit ist die Möglichkeit, einen Weltzustand um eines neueren willen zu verlassen, und die Gerechtigkeit, die sie diesem widerfahren läßt, ist zugleich die Ungerechtigkeit, die sie jenem antut. Haben Adam und Eva richtig oder falsch gehandelt? Sie haben gehandelt. Ist Gott mit ihnen unzufrieden? Es ist so schwer zu sagen; er schimpft, aber er macht ihnen Hosen.
Sobald wir, im Denken oder Tun, in die wirkliche Welt eintreten, betreten wir das Reich, wo es dialektisch hergeht. Die Paradiesgeschichte, dieses große Bild vom Anfang des Menschen, ist vom Verfasser ausgelegt worden als das große komische Bild vom Betreten der wirklichen Welt. (...)

PETER HACKS