In der Tat haben die alten Chinesen das Fußballspiel erfunden: vielleicht – wie ihre Legenden behaupten – schon im dritten Jahrtausend vor Christi Geburt, jedenfalls zwei- bis dreitausend Jahre bevor es im Hochmittelalter von den Europäern nochmals erfunden wurde, die vom chinesischen Urtyp dieses Spiels keinerlei Ahnung hatten.

Seit dem 12. Jahrhundert wurde in einigen Ländern Europas ein urtümliches Fußballspiel betrieben, dessen Regeln sich im Dunkel der Geschichte weitgehend verlieren – oder überhaupt nur ansatzweise vorhanden waren. Offenbar wurde dieser Ur-Fußball vornehmlich in zwei Regionen gespielt: im nördlichen Frankreich (vornehmlich in der Bretagne, Normandie und Picardie) und in England. Dagegen gibt es für dieses Spiel keinerlei Zeugnisse aus Skandinavien, Deutschland und dem übrigen Europa. Die Quellenlage ist so eindeutig, daß man behaupten darf: Der Prototyp des europäischen Fußballspiels ist in Frankreich und England entstanden. Diese Vermutung ist umso berechtigter, als sich Reste dieses Spiels bis in die Neuzeit gerettet haben.

Von seinen volkstümlichen Anfängen (denen des Fußballs) bis zu seiner Regulierung im 19. Jahrhundert war es ein rohes Raufspiel – und noch heute ist der Fußballsport rauh und keineswegs „gefahrlos“. Der Weg des Fußballspiels in die Moderne ist von zahlreichen Toten und Verletzten gesäumt und durch häufige Verbote markiert: Es bestand Gefahr für Leib und Leben. Bezeichnenderweise sind die wichtigsten Quellen, aus denen wir unsere Kenntnisse über das frühe Fußballspiel schöpfen, Gerichtsakten, in denen über Verletzungen und Todesfälle berichtet wird, und königliche Erlasse oder kommunale Anordnungen, in denen dieses Spiel verboten wird.
Nirgends in diesen frühen Belegen kommt das von uns heute gehätschelte Prinzip der Fairneß in Sicht. Es wird getreten, gerauft, geprügelt, daß es eine Art hat. Schlimmer noch: Oft bietet das Fußballspiel einigen Streithähnen oder verfeindeten Dörfern willkommene Gelegenheit, alte Rechnungen zu begleichen.
Mit der Zahl der Kombattanten wächst die Wahrscheinlichkeit, daß unter ihnen ein Streit ausbricht. Da bis ins 19. Jahrhundert die Größe der Fußballmannschaften nicht festgelegt war, kam es zu Massenraufereien, die gelegentlich zu Scharmützeln eskalierten – so in Ruislip, wo im März 1576 etwa hundert Handwerker Fußball spielend aufeinander losgingen. Auf der Walstatt blieben mehrere Tote und Schwerverletzte.

Den Behörden (auch in Frankreich) erschien das Fußballspiel als eine Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, was umso verständlicher ist, als es bis ins 19. Jahrhundert keine Polizei gab, die bei Ausschreitungen hätte eingreifen können. (...)
Die im 13. und frühen 14. Jahrhundert von den englischen Behörden, Synoden und Königen erlassenen Verbote des Fußballspiels waren durchaus begründet, wenn man sich die anarchischen Elemente des frühen Volksfußballs vergegenwärtigt. An Massenraufereien um den Ball nahmen oft viele Dutzende kräftiger, junger Männer teil. Es gab meist keine abgegrenzten Spielfelder: Man trieb den Ball vielmehr durch die engen Straßen und Gassen der Städte und Dörfer oder jagte querfeldein über Wiesen und Äcker – Bäche bildeten bei diesem dem Rugby ähnlichen Gerangel kein Hindernis. Die Spielbegeisterung machte auch vor Kirchhöfen nicht halt, auf denen im Mittelalter ohnehin oft Märkte und Vergnügungen aller Art stattfanden, durch deren Lärm der Gottesdienst gestört wurde.
Im Jahre 1314 verbietet der Bürgermeister von London, Nicholas Farndon, im Namen des Königs Eduard II., der zu einem Feldzug nach Schottland aufgebrochen war, auf den öffentlichen Plätzen der Stadt Fußball zu spielen:
„Weil in der City große Unruhe herrscht, die durch das Raufen um den Fußball entsteht, verbieten wir unter Androhung von Gefängnisstrafen, dieses Spiel künftig hier zu spielen.“
Die Furcht der städtischen Behörden vor Aufruhr war bis in die Neuzeit umso begründeter, als die stets unzufriedenen und aufmüpfigen Lehrlinge jede sich bietende Gelegenheit für Krawalle nutzten.
Daß Spielverbote immer wieder erlassen wurden, zeigt natürlich, daß sie kaum erfolgreich waren.

Zunächst einmal erstaunt die ungeheure Beliebtheit des Fußballspiels vor allem in England und Schottland. Dort huldigen diesem Spiel fast alle Schichten der Gesellschaft an allen möglichen und unmöglichen Orten – vor allem an Sonn- und Feiertagen. Motto dieses Kapitels könnte daher ein Satz aus einem englischen Theaterstück des Jahres 1633 sein: „Football is all the sport nowadays“ (Fußball – das ist das Spiel von heute).
Zu den traditionellen Fan-Gruppen aus der Landbevölkerung und der städtischen Unterschicht gesellen sich nun immer mehr Akademiker: angehende (Oberschüler und Studenten) – wie auch bereits examinierte (Anwälte und Kleriker zum Beispiel). Bereits im Mittelalter ist gelegentlich von Fußball spielenden geistlichen Herren die Rede. Nun hören wir so etwas öfter.
Da wird im Jahre 1529 ein Pfarrer in Berkshire des Amtes enthoben, weil er frivolerweise „ludit ad pilam pedalum in camisia sua“ – Fußball im Hemd gespielt hat. Vor allem aber wurde ihm vorgeworfen, er habe die gesamte sonntägliche Liturgie im Eiltempo bereits am Vormittag erledigt, damit er den Rest des Tages für seinen geliebten Fußball zur Verfügung hatte.

Und manchmal mißachteten die Geistlichen sogar das Sonntagsspielverbot der Puritaner und Presbyterianer, um dem Fußballspiel zu frönen – und wurden prompt dafür bestraft: so im Jahre 1585 der junge James Law, der dennoch später Erzbischof wurde.

Daß nach einem Fußballspiel auch schon damals das Bier in Strömen floß, zeigt eine Verfügung, die im Jahre 1679 für die Studenten des Magdalen College Cambridge erlassen wurde und sich gegen Trinkgelage auf deren Zimmern richtet: „Da in den letzten Jahren verschiedene lästerliche Unsitten durch die Dreistigkeit einiger Studenten in diesem College eingeführt worden sind, wird angeordnet: Aus Anlaß des Fußballspiels am Feste Michaelis (29. Septem-ber) dürfen die Studenten Bier nur in der großen Halle trinken, um ihren Durst zu löschen ...“

Zurück nach England, wo ein dem Calcio vergleichbarer Zivilisierungsprozeß zur Zeit der Renaissance und des Barock nicht zu erkennen ist. Vielleicht ist aber gerade die jahrhundertelange Regellosigkeit und gesellschaftliche Offenheit des dort betriebenen Fußballs als Basis, ja Voraussetzung des modernen Massenfußballs zu bewerten.
Die lange Regungslosigkeit betrifft die Spielweise, nicht jedoch die Verbreitung und das Ansehen des Fußballs. Während des 16. und 17. Jahrhunderts ist das Fußballspiel wie kein anderes im Gespräch, taucht überraschend in völlig neuen Zusammenhängen auf: In England, aber auch in Schottland ist es allgegenwärtig. Daraus ergibt sich eine merkwürdig paradoxe Situation. Obwohl die Entwicklung des Fußballs auf der Stelle tritt, gibt es über ihn viel Neues zu berichten. Eine kleine Auswahl solcher Neuigkeiten muß hier genügen.
Nehmen wir zunächst den Bereich der Gerichtsprotokolle, die die Geschichte des Fußballs von Beginn an begleiten, ja die Rekonstruktion seiner Frühzeit erst ermöglichen. Sie werden seit dem 16. Jahrhundert um zwei Varianten bereichert: Es wird nicht mehr nur gerauft und getreten, sondern auch geschossen. Und über Fußballverletzungen wird nun nicht mehr ausschließlich ernsthaft, sondern auch spöttisch berichtet – die Verletzten haben neben dem Schaden auch den Spott zu ertragen.

Der wüsteste Angriff auf den Störenfried Fußball floß aus der Feder des Puritaners Philip Stubbes – eines Abtrünnigen: Als Student in Oxford und Cambridge hatte er selber diesem Spiel gehuldigt. 1583 veröffentlichte er sein berüchtigtes Pamphlet The Anatomy of Abuses in England (Anatomie englischer Mißstände), in dem er das sonntägliche Fußballspiel als „teuflischen Zeitvertreib“ heftig attackiert und absurderweise an die Seite „unzüchtiger Lektüre“ stellt. Dieser radikalste Angriff, der je gegen den Fußball geführt wurde, ist bis heute lesenswert geblieben – nicht wegen der Beweisführung, sondern wegen der ungemein drastischen, ja blutrünstigen Schilderung tatsächlicher oder angeblicher Fußballgreuel im üppigen Stil jener Zeit. Eine Kostprobe möge genügen:

„Das Fußballspiel ist eher eine blutige, mörderische Beschäftigung als ein Spiel oder Zeitvertreib. Wartet nicht jeder darauf, seinen Gegner zu Fall zu bringen – auch auf steinigem Boden? Und wer dies am besten kann, ist der Angesehenste. Mal wird das Genick gebrochen, mal der Rücken oder Beine oder Arme. Aus den Nasen schießt das Blut, oder die Augen quellen hervor.
Doch auch die Besten kommen nicht ohne Schaden davon, sondern werden so verletzt und gequetscht, daß sie daran sterben oder nur knapp dem Tod entgehen. Kein Wunder! Zwei nehmen einen dritten in ihre Mitte, rammen ihm die Ellbogen ins Herz, schlagen ihm die Fäuste unter die kurze Rippe ... Daraus erwachsen Neid, Bosheit, Haß – und manchmal Mord und Totschlag ...“

(...) der frühe, volkstümliche Fußball (ähnelte) dem Rugby und (ließ) auch das Fangen und Tragen des Balls zu (...)

Die enorme Beliebtheit des Fußballs auf den Britischen Inseln blieb natürlich auch ausländischen Reisenden nicht verborgen. Der Schweizer Beat Ludwig de Muralt, der England im Jahre 1694 besuchte, ist über die Wildheit des englischen Straßenfußballs befremdet (...): „Manchmal vergnügt sich das Volk in störender, ja unverschämter Weise – so, wenn es den Fußball durch die Straßen treibt und Gefallen daran findet, die Glasfenster von Häusern und ihnen begegnenden Karossen zu zerstören.“
In diesem Bericht kommt andeutungsweise eine früh zu beobachtende Motivation für das Fußballspielen zum Vorschein: das urtümliche Bedürfnis, alte Rechnungen auf direktem Wege zu begleichen und soziale Unzufriedenheit ebenso frontal zu äußern. Gemäß Muralts Beobachtung ist der Fußballrowdy nicht bemüht, Schäden zu vermeiden – er will sie herbeiführen.
Ähnlich wie Muralt äußert sich 1728 sein Landsmann Cäsar de Saussure. Dieser berichtet nicht nur über zu Bruch gegangene Glasscheiben, sondern über körperliche Angriffe auf unbeteiligte Passanten: „Diese Kerle schlagen dich ohne Zögern zu Boden und lachen noch darüber.“ Der Franzose Henri Misson de Valbourg hat während seiner Englandreise im Jahre 1698 friedlichere Fußballdarbietungen zu Gesicht bekommen. Sein lapidarer Bericht lautet: „Im Winter ist das Fußballspiel [‚le football’!] eine nützliche und bezaubernde Übung. Der Ball ist aus Leder, groß wie ein Kopf und mit Luft gefüllt. Er wird mit dem Fuß durch die Straßen getrieben – von demjenigen, der ihn erreichen kann: Weiterer Kenntnisse bedarf es hierbei nicht.“

Die weitgehende Regellosigkeit des Fußballspiels sollte erst 150 Jahre später beseitigt werden.

Theo Stemmler: Kleine Geschichte des Fußballspiels, Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1998