Schauspiel
Kabale und Liebe
Ein bürgerliches TrauerspielGrad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf (Nietzsche).
Das zwanzigste Jahrhundert begann mit Nietzsches Lamento, daß Gott tot sei. Das Time-Magazin entschloß sich 1967, über den Todesfall zu berichten. Gegen Ende des Jahrhunderts zerfällt das Pantheon der Idole, mit denen wir den abwesenden Gott ersetzen wollten. Der Vernunft ist es nicht gelungen, privates oder kollektives Heil zu bringen. Wissen und Tatsachen haben uns überflutet, und im gleichen Maße ist die Weisheit geschwunden. Macht wurde angehäuft, und mit ihr die Neigung zum nuklearen Suizid oder Kosmozid. Kommunikationsnetze umspannen den Globus, aber sie haben das Mitgefühl nicht vergrößert. Neuerdings befindet sich auch der jüngste und hartnäckigste der Ersatz-Götter bei schlechter Gesundheit. Die Liebe in ihrer Dreifaltigkeit - Romanze, Ehe, Sex - ist ein sterbender Gott. Der romantische Mythos und die Hoffnung auf das permanente happy end werden durch die Erfahrung kontinuierlich zerschmettert. Und die Sexualität, der wir uns in die Arme warfen, um uns für unsere Enttäuschung mit der Liebe zu entschädigen, bricht unter der Last unserer Erwartungen zusammen. Schon hat sich die Nachricht von unserer erotischen Unpäßlichkeit bei den Medien herumgesprochen, und wir konnten die Schlagzeile lesen: "Sex ist tot."
Warum?
Es gibt keinen besseren Ort, um mit unserer Suche nach dem Verständnis unserer erotischen Krise zu beginnen, als bei den Worten selbst.
Eine Binsenweisheit behauptet, daß unser Problem in der Vagheit des Wortes "Liebe" begründet liegt. Die Griechen hatten es wahrscheinlich leichter, denn sie konnten unterscheiden zwischen agape (eine göttliche Art altruistischer, selbstaufopfernder Liebe, wie etwa Mutter Theresas Dienst an den Verwundeten und Sterbenden von Kalkutta), eros (ein gieriges, sehnsuchtsvolles Verlangen, den anderen zu besitzen) und philia (brüderliche Liebe oder Freundschaft). In nur einem Wort, "Liebe", steckt eine Vielfalt von Sünden und Tugenden, die ganze Spanne zwischen Lust und Leidenschaft. Wir "lieben" unsere Frauen, unsere Kinder, unsere Autos und unsere Hunde. "Liebe" ist die Antwort auf alle Probleme, die nicht von der Wissenschaft lösbar sind. "Gott ist Liebe." "Was die Welt heute braucht, ist Liebe, nur die Liebe allein." Psychiater warnen uns, daß wir "lieben oder aussterben" müssen. Kein Zweifel, das Evangelium des Johannes ist theoretisch richtig. Liebe ist das A und O, der Morgen- und der Abendstern. Aber gerade die Universalität der Berufung auf Liebe scheint sie zu entwerten.
Das Problem der Liebe liegt in unserem Innersten, nicht auf unseren Zungen: es liegt in unseren Absichten, nicht in unseren Wörterbüchern. Wir mißverstehen die Liebe, weil wir uns entschlossen haben, der Macht zu huldigen; uns fehlt es an Mitgefühl, weil wir uns für den Weg herzlosen Wissens entschieden haben, ganz gleich, wohin er uns führt; wir bewundern nicht, weil wir darauf beharren, daß jedes Ding und jede Person nützlich sein muß; wir wundern uns nicht, weil wir das Reale auf das Meßbare reduzieren; wir kümmern uns nicht, weil wir zu dem Glauben gelangt sind, daß es sich für einen Mann oder eine Frau besser verzinst, die Seele einzutauschen gegen ein Stück Teilhabe an der "action".
Die griechischen Philosophen hielten den Eros für die treibende Kraft in allen menschlichen und nichtmenschlichen Dingen. Er war der Impuls, der alle Dinge nach Vervollkommnung sich sehnen und streben ließ. Das Samenkorn wurde erotisch dazu bewegt, ein Baum zu werden, genau wie menschliche Wesen durch den Eros dazu getrieben wurden, einsichtig zu sein und eine politische Ordnung zu schaffen, die so gerecht und harmonisch war wie die der Natur. Der Eros war nicht zu trennen von der Potentialität oder Verheißung (der Potenz oder Kraft), die in der Substanz aller Dinge schlummerte.
In der ursprünglichen Vision, die das Wort ins Leben rief, war erotische Potenz also nicht auf sexuelle Kraft beschränkt, sondern schloß auch die Triebkraft mit ein, die jede Lebensform von einem Zustand bloßer Möglichkeit in die Wirklichkeit drängte. Wenn wir "Erotik" auf ihre sexuelle Bedeutung eingrenzen, dann verraten wir damit unsere Entfremdung vom Rest der Natur. Wir bekennen, daß wir nicht mehr durch eine mysteriöse Kraft angetrieben werden, die Vögel zum Wandern oder Löwenzähne zum Sprießen bringt.
Wir investieren unsere Hoffnungen heute in die private Erfüllung der Liebe. Wir erwarten von der Liebe, der süßen Liebe, daß sie uns von den Verletzungen und Enttäuschungen heilt, die uns in unserem öffentlichen Leben in Institutionen, Firmen und Bürokratien zugefügt werden. Freud sagte, und wir stimmen ihm weitgehend zu, daß eine reife Person in der Lage sein sollte, zu lieben und zu arbeiten. Wir glauben an diese Zwillingstugenden. Aber in Wirklichkeit ist unser Leben um die Arbeit herum organisiert, und die Liebe soll dafür sorgen, daß die Arbeit das Leben lebenswert macht. (...)
Die Romanze ist das Juwel in der Krone des Kapitalismus. Kratzt man an einem Ingenieur, einem Arbeiter, einem Modeschöpfer, so entdeckt man unter der Oberfläche einen Romantiker. Wir wachsen in der Erwartung auf, daß es eines magischen Tages so weit ist. Wir werden uns in jenen gewissen Irgendwen verlieben, der sich genau so in uns verlieben wird. Dann werden wir beide (nach der Überwindung von Anfangsschwierigkeiten) uns zusammentun und nie wieder allein sein. Wir werden alles füreinander sein: Liebhaber, Kameraden, Helfer, Ehegatten, Freunde, Beschützer, Ernährer; ein selbstgenügsames Paar, das kaum auf andere angewiesen ist. Das mit Vorortkomfort weich ausgepolsterte Liebesnest mag eine Zeitlang mit Grünschnäbeln gefüllt sein, aber die Romanze zwischen Ehemann und Ehefrau wird durch dick und dünn andauern, bis daß der Tod uns scheidet.
Natürlich ist der Traum ein Klischee. Wirklichkeitssinn und Scheidungsstatistiken sagen uns, daß nur sehr wenige Liebhaber lange glücklich zusammenleben. Die Romanze schwindet. Gleichwohl ist der Traum zählebig.
Wir können unser romantisches Ideal nicht aufgeben, weil es Teil eines ganzen Wertsystems ist, in dessen Zentrum unser Glaube an das Individuum steht. Jeder von uns hat theoretisch das Recht, sein persönliches Schicksal zu schmieden, und dazu gehört das Recht, den Partner selbst auszusuchen. Kurz gesagt: Die Liebesgeschichte wirkt in der westlichen Kultur als ein Mythos (oder als eine "regulative Idee", wie Kant formulierte). Sie ist eine motivierende Fiktion, die Energie und Sehnsucht der Psyche bündelt, und sie ist ein wesentlicher Bestandteil der kapitalistischen Ideologie. Die Verheißung, daß unser Leben durch eine romantische Liebe gekrönt wird, ist untrennbar mit der kulturellen Entscheidung verbunden, den Großteil unseres Eros - Energie, Zeit und Sorgfalt - in die Arbeit, die Anhäufung von Geld und Macht zu stecken. Die Romanze ist der Gral, der uns für unsere Rastlosigkeit entschädigen soll, die heilige Erfüllung, von der wir erwarten, daß sie unsere Entzauberung der Welt kompensiert. Sie ist eine halluzinierte Oase der Leidenschaft in einer Kultur, die ihren Werthorizont auf den Pragmatismus reduziert hat. Die eine Person soll das Vakuum der Einsamkeit ausfüllen, das sich aus dem Verlust der Gemeinschaft ergibt, der Liebhaber soll die Magie ersetzen, die aus der Natur verschwand, als Christus (mit Hilfe des Bulldozers) "den großen Gott Pan tötete", wie D. H. Lawrence schrieb.
Sam Keen: Die Lust an der Liebe. Leidenschaft als Lebensform, Weinheim und Basel 1984.
Das zwanzigste Jahrhundert begann mit Nietzsches Lamento, daß Gott tot sei. Das Time-Magazin entschloß sich 1967, über den Todesfall zu berichten. Gegen Ende des Jahrhunderts zerfällt das Pantheon der Idole, mit denen wir den abwesenden Gott ersetzen wollten. Der Vernunft ist es nicht gelungen, privates oder kollektives Heil zu bringen. Wissen und Tatsachen haben uns überflutet, und im gleichen Maße ist die Weisheit geschwunden. Macht wurde angehäuft, und mit ihr die Neigung zum nuklearen Suizid oder Kosmozid. Kommunikationsnetze umspannen den Globus, aber sie haben das Mitgefühl nicht vergrößert. Neuerdings befindet sich auch der jüngste und hartnäckigste der Ersatz-Götter bei schlechter Gesundheit. Die Liebe in ihrer Dreifaltigkeit - Romanze, Ehe, Sex - ist ein sterbender Gott. Der romantische Mythos und die Hoffnung auf das permanente happy end werden durch die Erfahrung kontinuierlich zerschmettert. Und die Sexualität, der wir uns in die Arme warfen, um uns für unsere Enttäuschung mit der Liebe zu entschädigen, bricht unter der Last unserer Erwartungen zusammen. Schon hat sich die Nachricht von unserer erotischen Unpäßlichkeit bei den Medien herumgesprochen, und wir konnten die Schlagzeile lesen: "Sex ist tot."
Warum?
Es gibt keinen besseren Ort, um mit unserer Suche nach dem Verständnis unserer erotischen Krise zu beginnen, als bei den Worten selbst.
Eine Binsenweisheit behauptet, daß unser Problem in der Vagheit des Wortes "Liebe" begründet liegt. Die Griechen hatten es wahrscheinlich leichter, denn sie konnten unterscheiden zwischen agape (eine göttliche Art altruistischer, selbstaufopfernder Liebe, wie etwa Mutter Theresas Dienst an den Verwundeten und Sterbenden von Kalkutta), eros (ein gieriges, sehnsuchtsvolles Verlangen, den anderen zu besitzen) und philia (brüderliche Liebe oder Freundschaft). In nur einem Wort, "Liebe", steckt eine Vielfalt von Sünden und Tugenden, die ganze Spanne zwischen Lust und Leidenschaft. Wir "lieben" unsere Frauen, unsere Kinder, unsere Autos und unsere Hunde. "Liebe" ist die Antwort auf alle Probleme, die nicht von der Wissenschaft lösbar sind. "Gott ist Liebe." "Was die Welt heute braucht, ist Liebe, nur die Liebe allein." Psychiater warnen uns, daß wir "lieben oder aussterben" müssen. Kein Zweifel, das Evangelium des Johannes ist theoretisch richtig. Liebe ist das A und O, der Morgen- und der Abendstern. Aber gerade die Universalität der Berufung auf Liebe scheint sie zu entwerten.
Das Problem der Liebe liegt in unserem Innersten, nicht auf unseren Zungen: es liegt in unseren Absichten, nicht in unseren Wörterbüchern. Wir mißverstehen die Liebe, weil wir uns entschlossen haben, der Macht zu huldigen; uns fehlt es an Mitgefühl, weil wir uns für den Weg herzlosen Wissens entschieden haben, ganz gleich, wohin er uns führt; wir bewundern nicht, weil wir darauf beharren, daß jedes Ding und jede Person nützlich sein muß; wir wundern uns nicht, weil wir das Reale auf das Meßbare reduzieren; wir kümmern uns nicht, weil wir zu dem Glauben gelangt sind, daß es sich für einen Mann oder eine Frau besser verzinst, die Seele einzutauschen gegen ein Stück Teilhabe an der "action".
Die griechischen Philosophen hielten den Eros für die treibende Kraft in allen menschlichen und nichtmenschlichen Dingen. Er war der Impuls, der alle Dinge nach Vervollkommnung sich sehnen und streben ließ. Das Samenkorn wurde erotisch dazu bewegt, ein Baum zu werden, genau wie menschliche Wesen durch den Eros dazu getrieben wurden, einsichtig zu sein und eine politische Ordnung zu schaffen, die so gerecht und harmonisch war wie die der Natur. Der Eros war nicht zu trennen von der Potentialität oder Verheißung (der Potenz oder Kraft), die in der Substanz aller Dinge schlummerte.
In der ursprünglichen Vision, die das Wort ins Leben rief, war erotische Potenz also nicht auf sexuelle Kraft beschränkt, sondern schloß auch die Triebkraft mit ein, die jede Lebensform von einem Zustand bloßer Möglichkeit in die Wirklichkeit drängte. Wenn wir "Erotik" auf ihre sexuelle Bedeutung eingrenzen, dann verraten wir damit unsere Entfremdung vom Rest der Natur. Wir bekennen, daß wir nicht mehr durch eine mysteriöse Kraft angetrieben werden, die Vögel zum Wandern oder Löwenzähne zum Sprießen bringt.
Wir investieren unsere Hoffnungen heute in die private Erfüllung der Liebe. Wir erwarten von der Liebe, der süßen Liebe, daß sie uns von den Verletzungen und Enttäuschungen heilt, die uns in unserem öffentlichen Leben in Institutionen, Firmen und Bürokratien zugefügt werden. Freud sagte, und wir stimmen ihm weitgehend zu, daß eine reife Person in der Lage sein sollte, zu lieben und zu arbeiten. Wir glauben an diese Zwillingstugenden. Aber in Wirklichkeit ist unser Leben um die Arbeit herum organisiert, und die Liebe soll dafür sorgen, daß die Arbeit das Leben lebenswert macht. (...)
Die Romanze ist das Juwel in der Krone des Kapitalismus. Kratzt man an einem Ingenieur, einem Arbeiter, einem Modeschöpfer, so entdeckt man unter der Oberfläche einen Romantiker. Wir wachsen in der Erwartung auf, daß es eines magischen Tages so weit ist. Wir werden uns in jenen gewissen Irgendwen verlieben, der sich genau so in uns verlieben wird. Dann werden wir beide (nach der Überwindung von Anfangsschwierigkeiten) uns zusammentun und nie wieder allein sein. Wir werden alles füreinander sein: Liebhaber, Kameraden, Helfer, Ehegatten, Freunde, Beschützer, Ernährer; ein selbstgenügsames Paar, das kaum auf andere angewiesen ist. Das mit Vorortkomfort weich ausgepolsterte Liebesnest mag eine Zeitlang mit Grünschnäbeln gefüllt sein, aber die Romanze zwischen Ehemann und Ehefrau wird durch dick und dünn andauern, bis daß der Tod uns scheidet.
Natürlich ist der Traum ein Klischee. Wirklichkeitssinn und Scheidungsstatistiken sagen uns, daß nur sehr wenige Liebhaber lange glücklich zusammenleben. Die Romanze schwindet. Gleichwohl ist der Traum zählebig.
Wir können unser romantisches Ideal nicht aufgeben, weil es Teil eines ganzen Wertsystems ist, in dessen Zentrum unser Glaube an das Individuum steht. Jeder von uns hat theoretisch das Recht, sein persönliches Schicksal zu schmieden, und dazu gehört das Recht, den Partner selbst auszusuchen. Kurz gesagt: Die Liebesgeschichte wirkt in der westlichen Kultur als ein Mythos (oder als eine "regulative Idee", wie Kant formulierte). Sie ist eine motivierende Fiktion, die Energie und Sehnsucht der Psyche bündelt, und sie ist ein wesentlicher Bestandteil der kapitalistischen Ideologie. Die Verheißung, daß unser Leben durch eine romantische Liebe gekrönt wird, ist untrennbar mit der kulturellen Entscheidung verbunden, den Großteil unseres Eros - Energie, Zeit und Sorgfalt - in die Arbeit, die Anhäufung von Geld und Macht zu stecken. Die Romanze ist der Gral, der uns für unsere Rastlosigkeit entschädigen soll, die heilige Erfüllung, von der wir erwarten, daß sie unsere Entzauberung der Welt kompensiert. Sie ist eine halluzinierte Oase der Leidenschaft in einer Kultur, die ihren Werthorizont auf den Pragmatismus reduziert hat. Die eine Person soll das Vakuum der Einsamkeit ausfüllen, das sich aus dem Verlust der Gemeinschaft ergibt, der Liebhaber soll die Magie ersetzen, die aus der Natur verschwand, als Christus (mit Hilfe des Bulldozers) "den großen Gott Pan tötete", wie D. H. Lawrence schrieb.
Sam Keen: Die Lust an der Liebe. Leidenschaft als Lebensform, Weinheim und Basel 1984.