Menschsein ist keine politische Kategorie, sondern eine private. Als Menschen sind wir ungleich, als politische Akteure können wir Gleichheiten fordern. Wo wir "nichts als ein Mensch zu sein" wünschen, haben wir - politisch - bereits verloren. Wir empfehlen uns, statt uns auf Rechte berufen zu können, der willkürlichen Zuneigung an. Tatsächlich hat Nathan nichts als seine Rhetorik von Menschlichkeit und Freundschaft. Das Stück weist ihm keine Gruppe, Gemeinde, Gemeinschaft zu, deren Teil er wäre. (...) Die Lebensgeschichte Nathans wird kein Teil der Welt, die er mit den anderen teilt. Und damit wird auch er nur zu Teilen Teil dieser Welt. Das ist es, was den Schluss des Stückes so seltsam macht, das ist es auch, warum man, obwohl von "allseitigen Umarmungen" die Rede ist, Nathan beiseite stehen sieht. (...) Was im Ernst auch sollte Nathan bei den Glücklichen! Der Teil der Geschichte, der auf ihm lastet, soll verborgen bleiben und kann doch nicht abgeworfen werden. Er hat keinen privaten und keinen öffentlichen Ort. Wer heute einen "Nathan" schriebe, könnte die Morde von Gath nicht in Schweigen gehüllt stehenlassen (...).
Die Geschlossenheit der Figur Nathans liegt in seinem Schweigen begründet. Das Angedenken der Morde von Gath ist in seinem Innern verschlossen und gelangt nicht in die Welt. (...) Nathans Geschlossenheit ist die Kehrseite einer Gesellschaft, die, so wie sie auf dem Theater skizziert ist, das Leid aus sich ausschließt. Es droht das Wort von der Menschheitsfamilie, in der alles harmonisch sich verbindet, vor allem Öffentlichkeit und Privatheit ununterscheidbar werden. Die politischen Risiken dieses auch in der Aufklärung selten ganz ernstlich geträumten Traumes brauche ich nicht zu erwähnen (...).
Die Sphäre der Öffentlichkeit kann die Fähigkeit zum Mitleid in vielerlei Weise instrumentalisieren, sehr wohl zum Guten, und der Nachgeschmack nach Kitsch, der zuweilen bleibt, ist uninteressant. Doch gestalten lässt sich, was nicht dem Privaten zugehörig ist, mit diesem Gefühl nicht. Es ist dem bloßen Menschsein verbunden und so wenig politisch wie dieses. Das "bloße Menschsein" und der mitleidige Affekt kommen mit der Komplexität der Wirklichkeit nicht zurecht.

Das macht ihre Kraft in manchen Situationen ebenso aus, wie die Unmöglichkeit, auf ihrer Basis allein umsichtig zu handeln. Im "Nathan" sehen wir Größe und Grenzen des Mitleids in der Szene, wo Nathan seine Erinnerungen dem Klosterbruder mitteilt. "Allgerechter!", sagt dieser und: "Ach! Ich glaubs Euch wohl!", als Nathan über den "unversöhnlichsten Hass" spricht, den er dem Christentum damals zugeschworen habe. Kein Erschrecken, reine Empathie. (...)
Ebenso hört man Nathan immer gegen die leere Allgemeinheit einer Maximenethik angehen. Das ist keine Lebensklugheit, keine Gewitzt- oder Gewetztheit, sondern Ausdruck einer Sorge um die Welt, die aus dem Wissen um ihre Fragilität kommt. (...) Sorge um die Welt, nicht weil sie liebenswert sei, sondern weil Nathan - zu Gath - einen Blick in die Hölle getan hat. Was Lessing aus dem Schmerz um Frau und Kind, einer Lebenskatastrophe, (...) empathisch zugänglich war, lesen wir und können es mit Recht historisch rückprojizieren aus den Lebensgeschichten Überlebender. Was für Nathan, nach Lessings Konzept, nur im privatesten Gespräch seinen Ort hatte, steht heute in der Öffentlichkeit, nicht als Widerlegung, sondern als vexierbildhafte Bestätigung, zu der die Geschichte nötigte. "Wir (haben) gelernt", schreibt Primo Levi, "dass unsere Persönlichkeit zerbrechlich ist, dass sie weit mehr in Gefahr ist als unser Leben. Könnte aus unserem Lager eine Botschaft hinausdringen zu den freien Menschen, so lautete sie: Sorget, dass euch in euerm Heim nicht geschehe, was uns hier geschieht!" Diese Sorge ist das offenbare Geheimnis der Weisheit und scheinbaren Güte Nathans (...).

Jan Philipp Reemtsma in seiner Dankrede zum Lessing-Preis 1997; zitiert nach: Thomas Möbius: Erläuterungen zu Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise, Königs Erläuterungen und Materialien, Band 10, C. Bange Verlag Hollfeld 2000, S. 125ff.