Der Mensch ist eine erstaunliche Maschine, göttlich und infernalisch. Er lebt in einer seltsamen Umgebung; unermeßlicher Reichtum, Recht und Schlechtigkeit, Güte und Lumperei. Er ist frei, im Eis der Pole wie in der Glut der Tropen. Aber er kann an Kälte oder Hitze sterben. Er muß sich verteidigen und daher angreifen. Er braucht Stille, und der Lärm umgibt ihn. Er braucht Liebe, und der Teufel ist überall. Um zu leben, muß er essen; um sein Brot zu bezahlen, verdient er Geld; und das Geld hängt oft zusammen mit Lüge, Verstellung, Gier und Gemeinheit. Usw., usw. Was für ein Kampf!
Daher stellen sich die Menschen gerne unter: Häuser, Gesetze und Verordnungen, Brauch, Mode, Moral. Ebensoviel Geländer, Gefängnisse, Enge. Feigheit liegt nahe. Der Mut aber auch!
Der Mensch ist frei. Viel Glück!
Le Corbusier

Für unsere moderne Gesellschaft ist charakteristisch, was Soziologen in ihrer spröden Terminologie die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen nennen. Das Gute, das Wahre und das Schöne, Recht und Macht fallen beziehungslos auseinander und werden zum Gegenstand von Spezialkulturen, von Professionals. Und sie alle haben sich nichts mehr zu sagen: Der Wissenschaftler weiß nichts vom Pragma der Macht, der Ethiker ist unsensibel für Kunst, der Theologe verkennt den Positivismus des Rechts u.s.f. Max Weber hat in diesem Zusammenhang von einem Polytheismus der Wertreihen gesprochen; jedes Teilsystem der Gesellschaft hat seinen eigenen God-Term. Und wie der antike Mensch auf den Stationen einer Reise den unterschiedlichsten Göttern opferte, so unterwirft sich der moderne Mensch je und je den unterschiedlichen Wertlogiken von Wissenschaft, Kunst, Politik, Wirtschaft. [...]
Doch wie hängt das alles zusammen? Wo ist das Ganze, die Einheit? Keine Antwort. Hier tut sich eine Leere auf, die die Sinnsucher ansaugt. Hinter dem Sinnlosigkeitsgefühl steckt also die Ausdifferenzierung von Eigenarten, Sondersphären und Eigenlogiken von Teilsystemen. Und offenbar wird jede funktionale Ausdifferenzierung als Sinnverlust erfahren. [...]
Je stärker unsere Kultur differenziert, desto allgemeiner müssen nun aber die Einheitssymbole sein; d. h., man muß immer "schrecklicher" simplifizieren, um überhaupt noch Einheit symbolisieren zu können.
Dabei lernen wir, daß jede Einheit die "Gabe", die Zu-Gabe eines Beobachters ist - es gibt keine Einheit "an sich". Bei jedem Satz, der beginnt: Es gibt ein ..., muß man fragen: Wer "es"? Und die Antwort kann immer nur lauten: Das System! [...]
Was manche als Sinnlosigkeit erfahren, ist nichts anderes als die Offenheit des Sinnhorizonts, die Fülle der Optionen. Paradoxerweise wird das Mangelgefühl des Sinnlosigkeitsverdachts durch ein Überangebot kultureller Sinnformen erzeugt. Es ist alles voller Sinn! Und deshalb heißt "Sinnlosigkeit" eigentlich nur: leiden daran, daß alles auch anders möglich wäre. Also letztlich: leiden an der eigenen Freiheit, an der Kontingenz. Sinnlosigkeit heißt, die eigene Freiheit als Bedrohung zu empfinden.
Norbert Bolz